Eine Reise ins „Salvadorianische Bewusstsein“ – Bericht von Joëlle, Freiwillige aus Belgien
Autorin: Joëlle Mignon (aus Belgien), SCI Freiwillige bei Consciente El Salvador
Übersetzt von: Christoph Kühnhanss
Ich bin nun seit über einem Monat bei Consciente, und auch wenn dies sehr kurz erscheinen mag – ein Monat kann es ganz schön in sich haben. In dieser Zeit habe ich so viele Menschen getroffen und so viele neue Erfahrungen gemacht, dass mein Bewusstsein bereits begonnen hat, sich tiefgreifend zu verändern.
Seit meiner Ankunft in El Salvador befinden sich alle meine Sinne in einem ständigen Wachzustand. Alles ist anders, alles will neu entdeckt werden. Schon am ersten Tag fühlte ich mich wie zuhause, denn überall begrüssten mich ein Lächeln und warme Worte des Willkommens. Ich spürte vom ersten Augenblick an: „Ich werde diese Leute mögen!“. Die zweite Einsicht kam zwar nicht sofort, sondern erst nach der ersten Akklimatisierungsphase, dafür umso deutlicher: Ich komme aus einem sehr privilegierten Land.
Belgien hat ein kühles Klima und grüne, aber einheitliche Vegetation. Es ist ein Land mit sozialer Absicherung, hohen Beschäftigungsraten und kaum sichtbaren sozialen Ungleichheiten, vor denen man leicht die Augen verschliessen kann. In Belgien kämpfen wir allenfalls gegen die Auswüchse des kapitalistischen Systems oder für die Gleichstellung von Frauen und Männern, setzen uns ein für bessere soziale Institutionen, die alle Bevölkerungsschichten gleichermassen berücksichtigen, oder protestieren gegen Steuerhinterziehung und die wachsende Macht multinationaler Unternehmen. Dabei merken wir oftmals überhaupt nicht, was für ein Privileg es ist, sich überhaupt für oder gegen etwas engagieren zu können. Denn wir wissen nicht, was es bedeutet, in einem Land wie El Salvador zu leben, wo so viel Korruption und Vetternwirtschaft herrscht und wo es kaum Möglichkeiten gibt, für eine bessere Zukunft zu kämpfen. Wir wissen nicht, was es bedeutet, mit so himmelschreienden Ungleichheiten konfrontiert zu sein, dass die Zukunft der ärmsten Menschen in den Händen weniger Reicher liegt, deren einziges Interesse darin besteht, Geld zu machen. Oder wie es ist, in einem Land zu leben, in dem der Machismo so stark ist, dass es für Frauen schon gefährlich ist, sich gegen männliche Übergriffe zur Wehr zu setzen; in einem Land, das so konservativ ist, dass die Mehrheit der Bevölkerung Abtreibung in jedem Fall verurteilt. Und vor allem haben wir keine Ahnung, was es bedeutet, in einem Land zu leben, das von kriminellen Banden beherrscht wird, so dass selbst die Regierung nicht weiss, wie sie die alltägliche Gewalt stoppen kann.
All das lässt einen sofort wieder umkehren wollen – aber bei mir ist das Gegenteil passiert: Je mehr ich mir der Situation in diesem Land bewusst wurde, desto mehr reizte es mich, es näher kennenzulernen und zu verstehen, wie es so weit gekommen ist.
Die Geschichte El Salvadors ist dunkel, aber dieser Dunkelheit steht die Strahlkraft seiner Menschen gegenüber: Hier begrüßt dich jede und jeder mit einem wohlwollenden Lächeln, und schon nach wenigen Gesprächen mit den Menschen, die ich bei Consciente getroffen habe, wurde mir klar, dass der Blick aller in die Zukunft gerichtet ist. Ich habe noch nie so viele Menschen getroffen, die helfen wollen, ihr Land zu verändern. Die Jugendlichen sind unerwartet aktiv und engagiert, und das inspiriert mich derart, dass ich nur noch eines will: mit ihnen zusammenarbeiten. Seit ich hier angekommen bin, begegnete ich vielen freundlichen Menschen mit toller Ausstrahlung, die mich ihr Land entdecken lassen und sehr gerne mit einer Belgierin teilen wollen. Letztendlich besteht die grösste Bereicherung darin, mit anderen Menschen zu teilen und sich auszutauschen, denn dabei lernen wir alle von einander.
Ich bin sehr glücklich darüber, dass ich Consciente entdecken durfte. Es beweist einmal mehr, dass die Einheimischen sehr wohl dazu in der Lage sind, große Dinge zu tun, um die eigene Wirklichkeit zu verändern. Bei Consciente liegt der Fokus auf der „educación popular“: Lernen durch Handeln und unter Berücksichtigung der Voraussetzungen, die jede und jeder Einzelne mitbringt. Hier geht es nicht darum, auf traditionelle Weise zu unterrichten, indem eine Lehrperson einer Klasse Vorträge hält und Anweisungen gibt. Vielmehr tauschen sich die Teilnehmenden untereinander aus, teilen ihre Erfahrungen, und alle nehmen etwas aus den Workshops mit oder gehen sogar als veränderte Menschen daraus hervor.
Was mir an Consciente am besten gefällt, ist, dass die Organisation einen ganzheitlichen Ansatz verfolgt: Sie bietet jungen Menschen reelle Bildungschancen, die ansonsten keine Möglichkeit haben zu studieren; sie arbeitet daran, das traditionelle Bildungssystem mit innovativen Projekten weiterzuentwickeln; sie bietet jungen Menschen die Möglichkeit, sich selbst an der Vermittlung von Wissen zu beteiligen; sie arbeitet aber auch mit vielen Organisationen wie Frauenverbänden oder Veteranenvereinen zusammen. Die „educación popular“ wird hier als etwas Umfassendes angesehen, und das scheint mir der einzige richtige Weg zu sein, der zu nachhaltigen Lösungen führt. Deshalb fühle ich mich glücklich, mit meiner Arbeit einen kleinen Beitrag zum Gelingen dieser Projekte zu leisten – wenn auch nur für kurze Zeit.
Mein tägliches Leben bei Consciente besteht darin, Englischunterricht zu geben – meine Schülerinnen und Schüler sind die motiviertesten, die ich je getroffen habe! – und im Rahmen des Projektes CAL-IMPACT (computer-gestützter Mathematikunterricht für Kinder) Grundschulen zu besuchen. Schliesslich arbeite ich bei der Entwicklung von Workshops zur Gesundheitsprävention mit. Die Aufgaben sind sehr vielfältig, was mir die Möglichkeit gibt, sowohl das salvadorianische Bildungs- wie auch das Gesundheitssystem kennenzulernen.
El Salvador begeistert mich wegen seiner Geschichte, seiner Kultur und seiner Menschen und ich freue mich schon darauf, in den nächsten Monaten noch viel Neues zu entdecken. Am meisten gefällt mir die Vielfältigkeit meines Einsatzes: Man kann nie wissen, was am folgenden Tag passiert, und das gibt mir enorm viel Motivation! Ich bin schon gespannt, was als Nächstes passiert…
Autorin: Joëlle Mignon (aus Belgien), SCI Freiwillige bei Consciente El Salvador
SCI Freiwilligen-Einsätze bei Consciente
Die Zusammenarbeit mit dem Service Civil International (SCI Schweiz) ermöglicht es uns, Langzeitfreiwillige aus der ganzen Welt in El Salvador zu empfangen. Unsere internationalen Freiwilligen arbeiten bei bestehenden Projekten mit oder setzen eigene Ideen um und unterstützen so das lokale Team. Hast du Lust, wie Joëlle als Freiwillige nach El Salvador zu gehen? Mehr Informationen findest du hier: